Gefahrenlage: Bedürftige aus armen Familien finden bald keine Pflege mehr

Pflege zu Hause. Das wollen eigentlich alle. Vor allem die Betroffenen. Aber auch die Politik. Denn das spart den Staatshaushalten jährliche Kosten von über 200 Milliarden Euro. Doch vom Pflegeverband erhobene Zahlen zeigen: Die Pflege zu Hause wird einbrechen.

IMAGO

Leistungen mit einem volkswirtschaftlichen Wert von über 200 Milliarden Euro im Jahr erwirtschaften Menschen, die ihre Angehörige zuhause pflegen. Das hat eine Studie der Hochschule Zittau-Görlitz ergeben. Die hohe Zahl passt zu einem Wert, den das Statistische Bundesamt vor zwei Jahren ermittelt hat: Demnach findet 86 Prozent aller Pflege in Deutschland in den eigenen vier Wänden statt.

Aktuell tagt ein Arbeitskreis der schwarz-roten Regierung, der Vorschläge für eine Pflegereform machen soll. Für Isabell Halletz ist klar, in welche Richtung das geht: „Die Bundesregierung denkt in die Richtung, ambulante und Angehörigenpflege zu unterstützen.“ Aus Binnensicht der Regierung ist das auch sinnvoll: Umso weniger ihre Angehörigen zuhause pflegen, desto mehr von den 200 Milliarden Euro müsste Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) über seinen Haushalt bezahlen oder Sozialministerin Bärbel Bas (SPD) über die Rentenversicherung. Das Problem nimmt an Wucht zu, da die Gesellschaft statistisch gesehen altert. Schon jetzt belastet die Pflege mit rund 130 Milliarden Euro alleine Klingbeils Bundeshaushalt.

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 Halletz ist die Geschäftsführerin des Arbeitgeberverbands Pflege und vertritt damit die Heimbetreiber. Sie hat also ein berufliches Interesse daran, gegen den Schwerpunkt zu sein, die häusliche Pflege politisch zu stärken. Also untermauert ihr Verband ihr Anliegen mit Zahlen und hat eine Umfrage durch das Institut Insa in Auftrag gegeben. Die Zahlen sollten ein „Warnsignal“ für die Politik sein, sagt Thomas Greiner. Präsident des Arbeitgeberverbands.

Demnach sagt nicht einmal die Hälfte der Befragten – 43,7 Prozent – dass sie bereit und in der Lage sei, ihre Angehörigen zu pflegen. 34 Prozent sind dazu nicht in der Lage, 11 Prozent nicht bereit – zusammen können oder wollen also 45 Prozent ihre Angehörigen nicht pflegen. Über zehn Prozent machen dazu gar keine Angabe. Für diese Rubrik ein auffällig hoher Wert. Greiner fordert, dass diese Zahlen in die politische Diskussion einfließen. Denn der Ansatz der Politik, die häusliche Pflege ausbauen zu wollen, könne vor diesem Hintergrund gar nicht funktionieren.

„Wir leben nicht mehr in den 1950er Jahren, in denen sich eine Heim- und Herdpflege etabliert hat“, sagt Greiner. Die „Boomer“, also die geburtenstarken Jahrgänge kommen erst noch im großen Stil in die Jahre wahrscheinlicher Pflegebedürftigkeit. Sie haben im Schnitt weniger Kinder. Deswegen funktioniere es nicht, allein auf die Pflege zuhause zu setzen: „Bund und Länder sind dabei, in der Sackgasse noch Vollgas zu geben.“ Denn: „Wir haben schon heute weder ambulant noch stationäre Vollversorgung.“

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 In der Pflege ist die Decke an allen Enden zu kurz. Einerseits ächzen die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen unter den hohen Kosten der Heime. Rund 3000 Euro müssen Heimbewohner mittlerweile an Eigenanteil bezahlen. Im Monat. Gleichzeitig befinden sich die Heime in einer Insolvenzwelle und die Beiträge zur Pflegeversicherung sind unter Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) mehrfach gestiegen. Das System krankt an allen Ecken und Enden. Fehlt es künftig an Angehörigen, die zuhause pflegen können und wollen, kommt noch mal ein zweistelliger Milliardenbetrag hinzu.

„Die Probleme sind bekannt, aber es passiert nichts“, sagt Greiner. Ein wichtiger Ansatz ist für den Präsident des Arbeitgeberverbands die Trägheit der Verwaltung. In der politischen Verwaltung. Als Beispiel nennt Greiner die „Stambulanz“. Seine eigene Initiative, die Pflege zuhause besser mit der Pflege im Heim zu verzahnen. Es habe zehn Jahre gedauert, diese geldsparenden Ideen zum Gesetz zu machen. Nun werde es nochmal zwei oder drei Jahre dauern, bis aus dem Gesetz Alltag werde. 13 Jahre für eine geldsparende Reform – in einer solchen Zeitspanne hätten die alten Ägypter Pyramiden gebaut.

Es ist aber auch die alltägliche Bürokratie, die laut Greiner zurückgebaut werden muss. In alles habe die Politik hinein regiert, geregelt, wie die Zimmer aussehen oder wieviele Pflege welche Leistung erbringen müssen. Das habe die Kosten in die Höhe getrieben. Angesichts des künftig noch höheren Pflegebedarfs und der geringeren Bereitschaft zuhause zu pflegen, müsse die Gesellschaft mit Abstrichen leben: Künftig werde zum Beispiel nicht mehr jeder Heimbewohner ein Zimmer für sich alleine haben. Doch dafür müsste die Politik den Weg freimachen. Deregulieren, was sie bis in den Mikrobereich geregelt hat. Zudem fordert die Interessenvertretung der Heime eine bessere finanzielle Ausstattung der Heime. Auch dass die Träger der Kommunalpolitik ihre Rechnungen künftig pünktlich bezahlen und nicht bei den Heimen hohe Zinskosten verursachen.

Die Frage, ob und wie stark künftig zuhause gepflegt wird, ist eine Frage des Einkommens, wie die Insa-Zahlen zeigen. Demnach sind nur 14 Prozent der „Oberschicht“ nicht in der Lage, ihre Angehörigen zuhause zu pflegen – in der „Unterschicht“ sind es 47 Prozent. Fast die Hälfte. Dafür sagen nur 7 Prozent der „Unterschicht“, sie seien nicht bereit, ihre Angehörigen zu betreuen – in der „Oberschicht“ wollen das 21 Prozent der Befragten nicht. Sie müssen es gegebenenfalls auch nicht, weil sie sich die 3000 Euro monatlicher Zuzahlung leisten können. Die Menschen mit niedrigen Einkommen sind aber doppelt gekniffen: Sie sind oft nicht in der Lage, Angehörige zu pflegen. Sterben die Heime weiter, gibt es für sie aber auch keine Alternative. Dann wird laut Greiner aus der Pflege- eine Gesellschaftskrise.

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Kommentare ( 19 )

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Wilhelm Roepke
17 Tage her

Es geht nicht ohne die Heranziehung der Kinderlosen, auch wenn die das nicht hören wollen. Daran hat sich schon Adenauer bei seiner Rentenreform nicht heran getraut.

Noergel Jo
17 Tage her

„Rund 3000 Euro müssen Heimbewohner mittlerweile an Eigenanteil bezahlen. Im Monat.“ Diese 3000 € mögen ein Durchschnittswert über die gesamte Dauer eines Plegeheimsaufenthalt über mehrere Jahre sein.  Allerdings beschönigt dieser Wert die tatsächliche Lage. Zumindest so wie ich sie aus eigener Erfahrung kenne. Hier bei uns in einem ländlichen Raum im Südwesten der Republik kenne ich nur ein Pflegeheim, bei welchem der monatliche Eigenanteil im ersten Jahr etwas unter 3000 € liegt. Alle anderen liegen teils drastisch über diesem Wert. Die Spanne reicht bis über 4000 (viertausend) € monatlichem Eigenanteil. Wohlgemerkt, das ist der vom Heimbewohner zu zahlende Eigenanteil nach Abzug… Mehr

Last edited 17 Tage her by Noergel Jo
Waldschrat
18 Tage her

Meine Frau und ich haben unseren Vater/Schwiegervater (halbseitig gelähmt nach Schlaganfall) 3 Jahre zu Hause gepflegt. Das war für meine Frau ein 24-Stunden-Job, physisch und psychisch aufreibend. Ich musste noch arbeiten. Aufgrund meiner Selbstständigkeit war ich halbwegs flexibel. Anerkannt wurde und wird das nicht, im Gegenteil, die Knüppel, die man uns zwischen die Beine geworfen hat, können wir gar nicht zählen. Das war schon ein Scheiterhaufen Mein Vater (90) hatte starke Demenz, meine Mutter (90), hat das zu Hause nicht mehr geschafft. Wir wohnen über 100 km entfernt. Also notgedrungen Pflegeheim. Obwohl mein Vater Gerinnungshemmer nahm, hatte er im Pflegeheim… Mehr

Yossarian
18 Tage her

Ich möchte mal einen ganz anderen Aspekt in dieses Thema bringen. Bin zwar kein Pflegeexperte, aber mehrmals direkt durch die aller nächste Verwandschaft – sprich Eltern und Schwiegereltern – betroffenen, 3 mal Pflegestufe 4. Ausserdem sieht man so, was in der weiteren Verwandschaft und Bekanntschaft so passiert. Vergleiche ich die alten Leute von heute mit den alten Leuten von vor 50 Jahren, so habe ich den Eindruck, das die Pflegedauer rapide zunimmt. Mein Urgroßvater z.B. – hoch in den 80zigern – konnte irgendwann nicht mehr alleine. Meine Oma holte ihn zur Pflege zu ihr, innerhalb eines Jahres ist er dann… Mehr

Last edited 18 Tage her by Yossarian
Nibelung
18 Tage her

Kinderaufsicht und Alten -und Krankenpflege hat eine völlig falsche Richtung eingeschlagen, was schon früher sichtbar war und man hat versucht das Problem über einen Pflegebeitrag zu regeln, der nun aufgrund der Altespyramide in Schräglage gerät und unter den heutigen Bedingungen nicht mehr zu finanzieren ist. Das alles hat auch was mit der Einstellung der Leute zu tun, die lieber andere dieses äußerst anstrengende Geschäft gegen Entgelt überlassen und für die Eltern selbst nicht mehr so viel übrig haben, denn es ist eine Sache der Fährnis für die Eltern aufzukommen, die es ja im Umkehrschluß auch für sie im Kindesalter getan… Mehr

Warte nicht auf bessre zeiten
18 Tage her
Antworten an  Nibelung

Die Dinge sind ja wohl doch etwas komplizierter. Oft leben die Kinder heute aus beruflichen Gründen weit weg von den Eltern. Die Anspruchshaltung ist bei beiden gestiegen. Wer erinnert sich noch an „Altersheime“ in den 50er und 60er Jahren? Und es ist wie bei fast allen Sozialleistungen: Wer spart, bekommt am Ende nichts, wird stattdessen das Ersparte los. Wer aus vollen Händen gelebt hat, wird alimentiert. Vergessen wird gern, daß wer mehr verdient, auch deutlich mehr in die Pflegekasse eingezahlt hat. Die, die in der Vergangenheit und heute die Pflegeleistungen bekommen, haben in der Regel nur wenige Jahre eingezahlt.

Chrisamar
18 Tage her

Auch bei den Pflichtbeiträgen in die Pflegeversicherung, besteht ein Demokratiedefizit zu Lasten der Deutschen Mindestlöhner und Rentner. Denn: PPV-Höchstbetrag für Beamte € 79,38 Deutsche Mindestlöhner mit Kindern zahlen 3,6% ihres Brutto Einkommens in die SPV. Ohne Kinder sind es sogar 4,2% ihres Brutto Einkommens. z.B. Frau Merkel würde € 1260,00 in die Pflgekasse zahlen. Bei ihrem Ehrensold, würde sie nicht darben. Es bliebe ihr immer noch mehr als genug. Bei einer durchschnittlichen Brutto Rente von € 1100,00, sind es € 39,60. Dem Deutschen Armutsrentner fehlt diese Summe schmerzlich. Der Pflegekasse bringt das auch nicht wirkich was. Entsprechend ist das Problem… Mehr

mega2xbass
18 Tage her

Das Problem sind auch die fehlenden Beiträge von den Mitbürgern, die weder die Leistung in Form von Elternschaft in die Gesellschaft einbringen, noch bereit oder in der Lage sind ihre eigenen Eltern zu pflegen, aber trotzdem die gleichen Leistungen aus der Renten-und Pflegekasse wollen. Diese Mitbürger müssen höher belastet werden. Der Sozialstaat beruht auf Solidarität. Ist ein Mitbürger nicht solidarisch, muss es auch der Staat nicht sein. Solange Bürger im erwerbstätigen Alter keine Eltern sind, sollten sie höhere Beiträge in die Renten -und Pflegekasse zahlen.

yeager
18 Tage her

Wofür haben Werktätige eigentlich alle in eine Pflegeversicherung eingezahlt, bzw. zahlen immer noch? Irgendwie gibt es bei der Pflege- und Rentendebatte eine Schieflage: Die Leute haben da in „Versicherungen“ eingezahlt, nicht wenige ein Arbeitsleben lang. Dem steht ein Anspruch auf entsprechende Leistungen gegenüber. Das ist das Wesen einer Versicherung. Der Staat ist da in der Pflicht, und wenn Gelder für versicherungsfremde Zwecke eingesetzt wurden und deshalb nicht mehr für die Versicherten zur Verfügung stehen, dann ist das Veruntreuung. Das gilt übrigens auch dann, wenn für ein „umlagefinanziertes System“ die Wirtschaft als Garant der Zahlungen vorgesehen ist, und die dann mutwillig… Mehr

Endlich Frei
18 Tage her

Wir werden um die Frage nicht umhin kommen: Sollen ältere Staatsbürger künftig kassenfinanzierte Sterbebegleitung finanziert bekommen, um künftig auch weiterhin riesige Ressourcen freizuhalten für die Finanzierung kassenfremder Leistungen, oder wollen wir, dass das gesamte System abschmiert ? Deutschland finanziert im Grunde voll umfänglich zwei Sozial- bzw. Gesundheitssysteme: Eines für seine beitragszahlenden Bürger, ein anderes für ein nicht beitragendes Millionenheer von Gästen (…ja sogar mitunter für ihre Verwandschaft im Ausland). Wir müssen uns angesichts des wachenden Finanzlochs irgendwann entscheiden, wer hier Priorität genießt und ich denke, angesichts der linksgrünwoken Verachtung unserer Geschichte, Kultur und das Prinzip der Solidargemenschaft durch die Altparteien… Mehr

Last edited 18 Tage her by Endlich Frei
Britsch
18 Tage her
Antworten an  Endlich Frei

Zu einer „Solidargemeinschaft“ gehört aber nicht nur daß Diejenigen die Arbeiten und Beiträge zahlen Andere mit verhalten, sondern daß alle die ARBEITEN KÖNNEN auch arbeiten und die Welche keine Arbeit haben, JEDE irgendwie zumutbare Arbeit annehmen sonst ist das ein Schlaraffenland für Abzocker und keine Solidargemeinschaft

Positivsteuerung
18 Tage her

Kanada verfolgt einen anderen Lösungsansatz:
Medical assistance in dying.
Die Entscheidung für Personen, die an mentalen Erkrankungen leiden, soll erst im März 2027 getroffen werden.